Warum ist dieser Mann kein Held? (2)
Warum gratuliert die Kanzlerin nicht?Gerhard Kowalski © Lena Mucha für ZEIT ONLINENach der Wende hat Gerhard Kowalski bei der Nachrichtenagentur ddp gearbeitet, als einer der wenigen ehemaligen ADN-Mitarbeiter wurde er übernommen. Sogar in der Münchner Redaktion war er, lange Jahre hat er dort nur Nachtschichten gemacht, weil er seine westdeutschen Chefs nicht ertragen hat. Bis zur Rente. Kowalski sagt von sich, ein Ekelpaket zu sein, aber im Gespräch ist er liebenswürdig und charmant. Natürlich kämpft er, der als Korrespondent in Algier, Warschau, Moskau und Budapest gearbeitet hat, wenn er sich für Sigmund Jähns Lebenswerk einsetzt, auch für sein eigenes, obwohl er das so nie zugeben würde.
Kein Glückwunschschreiben der BundeskanzlerinSchon im Frühjahr hat sich Kowalski in einem Brief an die Bundeskanzlerin gewandt: "Als der erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, im vergangenen Jahr 80 Jahre alt wurde, habe ich vergeblich auf einen Glückwunsch oder Gruß der Regierung an ihn gewartet. In diesem Jahr nun jährt sich sein Flug zum 40. Mal. Bisher sieht es so aus, als werde er wieder vergessen", schreibt er Angela Merkel in strengem Ton. "Ich hoffe sehr, dass die Vernachlässigung der historischen Leistung dieses Mannes nicht dem Umstand geschuldet ist, dass er aus der DDR stammt", heißt es weiter. "Mit vorzüglicher Hochachtung, Gerhard Kowalski". Tatsächlich sei er, sagt er, lange Zeit ein Bewunderer von Angela Merkel gewesen.
Eine Mitarbeiterin aus dem Referat Koordinierung in Angelegenheiten der neuen Länder im Kanzleramt antwortet ihm nur wenige Tage später: "Ich möchte Ihnen versichern, dass die Herkunft von Herrn Sigmund Jähn aus der DDR nicht das Kriterium für die Entscheidung darstellte, ihm kein Glückwunschschreiben der Bundeskanzlerin im letzten Jahr zu übersenden. Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft weiterhin alles Gute." Das ist nett gesagt, aber man fragt sich natürlich, was dann eigentlich der Grund gewesen sein soll. Auch Kowalski zuckt mit den Schultern.
Nicht traditionswürdigDaraufhin wendet er sich an das Verteidigungsministerium. Sigmund Jähn ist am 2. Oktober 1990 im Rang eines Generalmajors, dem fünfthöchsten Dienstgrad, den es in der DDR gab, aus der NVA entlassen worden, deshalb ist Ursula von der Leyen offiziell irgendwie doch für seinen Fall zuständig. Obwohl der sogenannte Traditionserlass der Bundeswehr, der im Frühjahr gerade erneuert und um die NVA ergänzt wurde, klar festlegt: "Die NVA begründet als Institution und mit ihren Verbänden und Dienststellen keine Tradition der Bundeswehr. In ihrem eigenen Selbstverständnis war sie Hauptwaffenträger einer sozialistischen Diktatur." Zwar wird die NVA in diesem Traditionserlass ausdrücklich nicht mit der Wehrmacht in ihrer historischen Bedeutung gleichgestellt, aber dennoch gilt für beide: Sie sind für die Bundeswehr nicht traditionswürdig.
Es sind aber, das steht auch in diesem Erlass, sowohl für Wehrmachts- als auch NVA-Angehörige nach sorgfältiger Prüfung Ausnahmen gestattet. Wer Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder das SED-Regime geübt hat oder wer außerordentliche Verdienste um die Deutsche Einheit errungen hat, könnte auch weiterhin geehrt werden. Könnte man nicht auch für Jähn, dessen Leistung als Raumfahrer unbestritten ist, eine Ausnahme machen? Oder war er dafür doch zu sehr Teil des Systems?
Es geht um RespektAuch von einem Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums bekommt Gerhard Kowalski rasch Antwort. Diesmal sind es nicht wenige Zeilen, sondern ein zweiseitiger Brief, in dem ihm freundlich, aber sehr bürokratisch noch einmal dargelegt wird, was bereits in dem Traditionserlass steht. Mit der folgenden Ergänzung: "Im Fall des ehemaligen Generalmajors der NVA Dr. Sigmund Jähn stellt sich die Frage seiner Traditionswürdigkeit erst, wenn er von den Angehörigen der Bundeswehr an einem Standort vorgeschlagen werden würde … Für diesen Fall wäre eine wissenschaftliche Kriterien erfüllende historische Überprüfung der Person und seiner Traditionswürdigkeit im Sinne des Traditionsverständnisses der Bundeswehr unbedingte Voraussetzung … Ich danke Ihnen für Ihr Interesse an der Bundeswehr und wünsche Ihnen alles Gute." Kowalski ist mit dieser Antwort, die ihn zwar nicht wirklich weiterbringt, zufrieden. Er hat den Eindruck, man habe sich mit seinem Anliegen angemessen befasst hat. Einer, der gegen Windmühlen kämpft, ist Kowalski nicht. Es geht ihm eher um Respekt.
Sigmund Jähn selbst freilich geht das ganze Theater, das Gerhard Kowalski für ihn veranstaltet, ein bisschen auf die Nerven. Man darf sich ihn nicht als einen verbitterten älteren Herrn vorstellen. Im Gegenteil, Jähn warnt mich öfter, mit meinem Text nicht zu übertreiben, wie er sagt, nicht dass sie noch anfangen, ihm zum Jahrestag die Bude einzurennen. "Wenn die Leute mich in Ruhe lassen, habe ich auch meine Ruhe", sagt er und lächelt.
Held der DDRVielleicht aber will er sich auch vor Enttäuschungen schützen. Als das 20. Jubiläum seines Fluges im Jahr 1998 bevorstand, hat er so gut wie alle Interviews abgesagt. Ursprünglich hatte er auch mich nicht treffen wollen, ich musste ihm erst noch eine zweite, sehr lange Mail schreiben, auf die hat er dann geantwortet: Na gut, kommen Sie eben, aber ich weiß gar nicht, worüber wir reden wollen. Das klang ziemlich misstrauisch.
Nach seinem Flug im Jahr 1978 bekam Jähn offiziell den Titel "Held der DDR" verliehen. Er wurde herumgezeigt wie ein bunter Hund, wie eine Trophäe auf öffentlichen Veranstaltungen ausgestellt und in die Betriebe geschickt. Es sollten die Menschen ihn überall, wo er auftauchte, auch anfassen dürfen. Er hat das alles mitgemacht, weil man das einfach so macht. Auf die vorgeschriebenen Reden allerdings, auf all die sozialistischen Floskeln hat er versucht zu verzichten, wo er konnte, erzählt er mir. "Die hat man mir zu Hause nicht beigebracht. Ich habe immer versucht, mit den normalen Leuten auch normal zu reden."
"Ich mache mir nicht mehr so viele Gedanken"Sigmund Jähn und der ESA-Astronaut Alexander Gerst © Jörg Carstensen/dpaSigmund Jähn hat nach der Wiedervereinigung vor allem ein privates Leben geführt. Und er ist immer wieder auf Kollegen getroffen, die ihm geholfen haben, sich für ihn eingesetzt haben. Alexander Gerst zum Beispiel. Der Astronaut, der im Moment als erster Deutscher und zweiter Westeuropäer überhaupt eine ISS-Mission leitet, nennt Jähn seinen Freund. Als er im Jahr 2014 seinen ersten Weltraumflug antrat, hat Gerst ein Abzeichen, das er irgendwo in einem verstaubten Andenkenladen in Sibirien gefunden hatte und auf dem Waleri Bykowski und Sigmund Jähn zu sehen sind, als eine Art Talisman mit ins All genommen, in ein Fenster der Raumstation gelegt und ein Foto gemacht, das er dem älteren Kosmonautenkollegen hinterher geschickt hat. Zu Weihnachten hat er ihm dann geschrieben: "Es war mir eine große Ehre und Freude, auf deinen Schultern in den Weltraum zu fliegen! Dein Freund Alex". Gerst also scheint ganz bewusst eine Traditionslinie zwischen sich und Sigmund Jähn zu ziehen, eine Linie, die es offiziell eigentlich nicht geben darf und die deshalb umso wichtiger ist. Jähn jedenfalls zeigt mir stolz das Foto von Gerst und auch sein Schreiben. Ich kann ihm ansehen, wie glücklich ihn die Gesten des Jüngeren machen. Der in Franken geborene Gerst war zwei Jahre alt, als Jähn flog; er war 13, als die Mauer fiel.
Der westdeutsche Kosmonaut Ulf Merbold (Vordergrund) in der US-Raumfähre "Columbia", November 1983 © NASA/UPIUlf Merbold darf man nicht vergessen. Der erste Westdeutsche im All ist in Wahrheit nämlich auch ein Vogtländer. Merbold wurde nur 40 Kilometer von Morgenröthe-Rautenkranz entfernt in Greiz geboren. 1960, als 19-Jähriger, verließ Merbold, weil man ihn nicht studieren ließ, die DDR und ging in die Bundesrepublik. Nach dem Mauerfall hat er sich dafür eingesetzt, dass Jähn in der europäischen Weltraumagentur ESA und dem deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR als Berater unter Vertrag genommen wird. Beinahe 15 Jahre hat Jähn daraufhin in Russland gearbeitet. Und dort hat er, das hat er mir mehrmals erzählt, genauso viel verdient wie seine westdeutschen Kollegen.
Die Biografien der beiden Männer könnten unterschiedlicher nicht sein. Merbold, der Republikflüchtling, und Jähn, die Ikone des Sozialismus. Merbold fasst das so zusammen: "Sigmund würde sagen, die DDR hat Fehler gehabt, aber im Kern war sie gut. Ich dagegen sage, nicht alles war schlecht, aber im Kern war die DDR ein Unrechtsstaat." Ausgerechnet die beiden verbringen den Abend des Mauerfalls gemeinsam in einem Hotelzimmer in Saudi-Arabien, weil dort gerade ein Kongress stattfindet, und wieder beschreibt Merbold die Szenarie mit einem beinahe allegorischen Satz: "Wir hatten an diesem Abend beide Tränen in den Augen, wahrscheinlich aber aus unterschiedlichen Gründen." Dass aber einer wie er Sigmund Jähn im wiedervereinigten Deutschland zu einer neuen Arbeit und damit einer Art zweitem Leben verhilft, gehört zu jenen Anekdoten, die zeigen, wie wenig ideologische Schablonen mitunter das normale Leben erklären können. Im Zweifelsfall schlägt das Leben der Ideologie ein Schnippchen.
Sigmund Jähn und Ulf Merbold, April 1990 © Wilhlem Leuschner/dpaImmer wieder schließt Sigmund Jähn die Augen, wenn ich ihn am Tisch in seinem Wohnzimmer nach seiner Kindheit frage. Ich kann beinahe selber sehen, wie er noch einmal den Flur in der Wohnung seiner Eltern betritt, wie er versucht zu hören, was sein Vater als Kind zu ihm gesagt hat. Er ist in solchen Momenten gar nicht mehr richtig da, sondern tief in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts versunken.
Eine Kindheit voller NazisEine der frühesten Kindheitserinnerungen, von denen er berichtet, ist, wie sein Vater ihn, so 1943 muss das gewesen sein, Jähn war sechs alt, mit in das Sägewerk nahm, in dem er arbeitete. In einer Baracke waren die sowjetischen Kriegsgefangenen untergebracht, die, so drückt er es aus, dieselben Bretter wie sein Vater schleppen mussten. Dem Kind haben sie manchmal Spielzeug geschnitzt und als er also um die Mittagszeit diese Baracke betritt und ein Stück Zucker auf einem Tisch liegt, will er nach dem Zucker greifen und ihn sich in den Mund schieben. Der Vater sieht das und staucht das Kind zusammen: Lass das liegen, die haben selber nichts, die armen Hunde.
Eine andere Erinnerung ist, wie sein erster Lehrer, ein richtiger Nazi, sagt Jähn, ein wirklicher Sadist, sagt er, den Jungen so sehr ins Gesicht schlägt, weil er wohl unsauber geschrieben habe, dass ihm das Blut aus der Nase läuft. Und welche Befreiung es für ihn gewesen ist, als nach dem Krieg die ersten Neulehrer an die Schule gekommen sind. Diese Lehrer, die alle an den Sozialismus glaubten, hätten ihn richtig beflügelt, hätten ihm Bücher zu lesen gegeben. Diese Zeit sei ein wirklicher Aufbruch gewesen. Und tatsächlich, das erwachende politische Bewusstsein des Jungen fällt in diese ersten Jahre nach dem Krieg, in die ersten Jahre der DDR. Er beginnt auch an diesen Sozialismus zu glauben, hält ihn für die richtige Antwort auf die Verbrechen des Krieges und des Nationalsozialismus. Die Neulehrer waren es dann auch, die ihn auf die Oberschule schicken wollten, allein sein Vater konnte mit so etwas nichts anfangen, der Junge sollte erst einmal einen richtigen Beruf lernen. Deshalb wird Jähn Buchdrucker. Dann holt er das Abitur nach, wird Pionierleiter, tritt in die SED ein und so weiter. Es ist eine sozialistische Bilderbuchkarriere, die nun beginnt. Und die ihn weit, weiter als jeden anderen DDR-Bürger, schließlich bis ins Weltall bringt.
Sigmund Jähn war ein Protagonist der DDR, er stand zwar nicht in der ersten Reihe, aber jene, die das taten, konnten sich auf ihn verlassen. Angela Merkel wird ihm deshalb wahrscheinlich keine Blumen zum 40. Jahrestag seines Fluges schicken und auch die Bundeswehr wird wohl nie eine Kaserne nach ihm benennen. Das ist für viele Ostdeutsche eine bittere Einsicht. Es kann gut sein, dass Gerhard Kowalski sich einfach irrt, dass sein Wunsch nach der Anerkennung des Lebenswerkes von Jähn nicht erfüllt werden wird, weil er schlicht nicht zu erfüllen ist. Weil es einfach noch nicht möglich ist, als Held der DDR auch im Westen Anerkennung zu bekommen. Vielleicht ändert sich das eines Tages, aber wer weiß das schon.
Sigmund Jähn © Andreas Mühe/VG Bild-Kunst, Bonn 2018Aber ab und an kann man fragen: Warum ist das eigentlich so? Ab und zu kann man daran erinnern, dass ein Mensch wie Sigmund Jähn auch dem Westen gut zu Gesicht stehen würde, weil sein Lebenslauf in vielem ebenfalls eine exemplarisch deutsche Biografie des 20. Jahrhunderts ist. Und wenigstens alle paar Jahre hilft es vielleicht, den Ostdeutschen anzumerken, dass unsere Erinnerungskultur sehr wahrscheinlich zu westdeutsch ist.
"Ich bin am Ende meines Lebens angekommen, ich mache mir nicht mehr so viele Gedanken", hat Sigmund Jähn zu mir gesagt. Aber ich habe dabei in seine wachen Augen geschaut und gewusst: Er sagt nicht die Wahrheit. Einer wie Sigmund Jähn hat sich sein Leben lang Gedanken gemacht und einer wie er wird auch am Ende seines Lebens nicht damit aufhören.
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